"Spezialeffekt" von riemsche

"Spezialeffekt" von riemsche

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selten ein Tag an dem man uns
nicht versichert dass gerade wieder
irgendwer irgendwo Geschichte schreibe
jetzt könnt man sagen_ ja natürlich
ist doch nur ne Redensart
um Außergewöhnliches zu charakterisieren
Aufmerksam zu akkumulieren

warum reicht es nicht von einer Sensation
oder unerwartetem Erfolg zu sprechen
muss die Historie beschworen werden
Selbstüberschätzung_ in der Behauptung
dass im Hier und Jetzt Geschichte
geschrieben werde verbirgt sich
ein frecher Vorgriff auf die Zukunft
wir tun so als ob
noch in Jahren ja Jahrhunderten
unsere euphorische Bewertung
eines marginalen Ereignisses
von kommenden Generationen geteilt
werden wird die gängig
flapsig Formel übersieht geflissentlich
dass sich historisch Gewichtiges
erst im Nachhinein entpuppt

die sagenhafte Unverfrorenheit
mit der Nebensächliches zum Bedeutsamen
Flüchtiges zum Epochalen stilisiert wird
passt in eine Medienlandschaft
die von haltlosen Übertreibungen lebt
ein Superlativ jagt den anderen
die Selbststilisierung in sozialen Medien
nimmt immer groteskere Formen an
der Blick für das Wesentliche
verliert sich im Ungefähren
Angemessenheit und Zurückhaltung
zählen nimmermehr als Tugend

in der Phrase_ Geschichte schreiben
drücken sich zudem beschönigender
Optimismus und verborgen Sehnsucht aus
einzelne Menschen könnten ja
ihre Zeit in positivem Sinne prägen
wir verwenden diese Formel deshalb meist
nur noch mit affirmativem Unterton
und in eher trivialem Kontext
dass hypertrophe Unternehmer
smarte Programmierer oder aggressive
Kriegsherren Geschichte schreiben
könnten kommt uns nicht mehr in den Sinn

beruhigende Ignoranz_ wie tröstlich
zu wissen dass für eine kritische Masse
die wirklich wichtigen Dinge
vor m Fernseher Smartphone im Kino
und auf Sportplätzen stattfinden
je unübersichtlicher und widersprüchlicher
unsere Wirklichkeit wird desto größer
und pathetischer die Worte
mit denen wir uns aus ihr verabschieden

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