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Die Forderung nach einer Leitkultur stammte ursprünglich vom Islamwissenschaftler Bassam Tibi, der damit in den 90er Jahren ein klares Programm verfolgte. Er dachte vor allem an Migranten aus muslimischen Gesellschaften, denen er dadurch den Weg zu einem aufgeklärten Euroislam erleichtern und Aufnahmegesellschaften die krisenanfällige Entwicklung von Parallelgesellschaften ersparen wollte. Tibi versammelte unter diesem missverständlichen Begriff jene Prinzipien, an denen sich alle, die im Westen leben wollen, orientieren sollten_ Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte, Demokratie und Zivilgesellschaft. Viel davon ist in modernen Verfassungen verankert. Diese Gesetze mit Geist und Leben zu erfüllen, sieht im Alltag allerdings mitunter anders aus, als am Papier_ s Modell scheiterte. Zum einen, weil der Begriff Leitkultur entgegen seiner ursprünglich europäischen Ausrichtung von Nationalisten usurpiert wurde, plötzlich von einer deutschen, gar österreichischen Leitkultur und deren regionalen Besonderheiten die Rede war. Das konnte nur in teils humorig teils beschämenden Debatten enden, die sich jetzt nach dem identitätsstiftenden Stellenwert von Schnitzel und Blasmusik erkundigen.
Zum anderen, weil universelle Werte, an denen sich Tibi orientieren wollte, gerade von progressiven Kreisen in einem Anflug von Selbsterniedrigung zur Disposition gestellt und kaum noch verteidigt werden. Leider gibt es keine Anzeichen, dass sich daran etwas geändert haben könnte. Angesichts der Konflikte, die das Zusammenleben von Menschen mit grundlegend unterschiedlichen Überzeugungen mit sich bringen kann, verkommt die Beschwörung einer ominösen Leitkultur zu einer hilflos peinlichen Geste.
Aktuelle Kritiker weisen gerne darauf hin, dass die Idee eines Führungsanspruches mit dem dynamischen Charakter von Kultur nicht kompatibel sei_ Kultur, so hört man, bedürfe keiner Direktiven, sie entfalte sich im regen Austausch. Wie aber kommt es dann, dass eifernd verfolgt wird, wer sich einer kulturellen Aneignung schuldig macht. Und ist es nicht verblüffend, dass an sich Verächter der Leitkultur keine Probleme damit haben, im Sinne des marxistischen Philosophen Antonio Gramsci für ihre eigenen Werte, Positionen und Anschauungen eine Hegemonie anzustreben.
Machen wir uns nichts vor_ es geht immer wieder um Diskurshoheit, definitiv um Macht und den Versuch, eigene Vorstellungen vom richtigen Leben und Denken anderen unterzujubeln. Es gibt Werte und Moden, die abseits des geltenden Rechts über Medien Bildungseinrichtungen und Institutionen durchgesetzt und somit dominant werden können. Dass das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft selbst Ausdruck einer mit Verve proklamierten neuen Leitkultur gewesen war, der kaum widersprochen werden durfte, gehört zu den merkwürdigen Pointen am Rande. Die Realität hat anders entschieden_ ein wenig Vernunft sollte demnach genügen.
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